Der Sonne so nah

Anmerkung: Diesen Teil des Reiseberichts habe ich lange vor den vorhergehenden und nachfolgenden Teilen geschrieben.


Spät am Abend verließen wir Alausí Richtung Riobamba und Chimborazo.


Ein guter Freund hatte mir den Illiniza Norte empfohlen, aber nachdem wir bereits in Bolivien an der 5.000-Meter-Marke gekratzt hatten, schraubte ich meine Ansprüche ein paar Höhenmeter nach oben. Ein Sechstausender musste her! Ich hatte ein gewisses Talent entwickelt, mit minimalem Rechercheaufwand ein Maximum an Informationen zu bekommen – ein bisschen herumfragen, ein bisschen in Reiseführern blättern, ein bisschen im Internet stöbern, auf den ästhetischen Aspekt und die Lage achten, kombinieren. Mein erster Kandidat war der Parinacota, ein bildhübscher, 6.348 Meter hoher Vulkan an der Grenze zwischen Bolivien und Chile. Als wir endlich vom Altiplano herunten waren, war ich allerdings etwas am Husten, und als ich zu husten aufgehört hatte, wollte ich nicht mehr zurück nach Bolivien. Der Chachani (bei Arequipa) war mir zu schiach, und als wir uns zwecks Wanderns in die Cordillera Huayhuash begaben, erfuhren wir, dass die 6000er in Nordperu nur zwischen Juni und September bestiegen werden können. Der letzte 6000er auf unserer Reiseroute war der Chimborazo. Laut Internet handelte es sich dabei um eine sinnlose Quälerei, der Weg vom Lager (in dem Fall eine Hütte) zum Gipfel und zurück ist deutlich länger als bei anderen vergleichbaren Vulkanen und muss, weil es tagsüber Steine regnet, unbedingt in der Nacht zurückgelegt werden.


Aber was solls… Riobamba und die angrenzende Pampa lagen auf unserem Weg, und der Chimborazo – einer der höchsten Vulkane der Welt – hatte mich schon fasziniert, als ich acht Jahre alt war und Vulkanforscher werden wollte. Der Gipfel des Chimborazo ist derjenige Punkt auf der Erde, der der Sonne am nächsten ist.


Ich brauchte einen ganzen Nachmittag, um den Besitzer der Carrel-Hütte zur Strecke zu bringen, aber dann saßen wir vor seinem Schreibtisch und er hatte ein Angebot, das wir nicht ausschlagen konnten – eine zusätzliche Nacht in der Hütte zwecks Akklimatisierung, bei Schlechtwetter eine dritte Nacht, Ausrüstung, Verpflegung, Bergführer, alles inklusive. Los gings.


Die Carrel-Hütte liegt auf 4.850 m und ist eine der höchsten Berghütten der Welt. In dieser Höhe gibt’s nicht mehr besonders viel Luft, deshalb kann man dort eigentlich auch nicht wirklich schlafen. Die meisten Bergsteiger wälzten sich nur in ihren Betten herum und gaben es irgendwann auf. Was mich betrifft, hab ich zum Erstaunen der Hütten-Besatzung acht Stunden durchgeschlafen. Am nächsten Tag machten wir eine Wanderung zu einer netten Felsformation auf 5.250 m. Zoryana schlug sich wacker und meine Bitten, sie möge doch bitte trotzdem auf den Aufstieg verzichten, fruchteten nichts. Am Nachmittag kehrten wir zurück zur Hütte. Unmittelbar über der Hütte befindet sich ein recht stattlicher Friedhof, dort liegen die Bergsteiger, die es nicht mehr aus eigener Kraft zurück in die Hütte geschafft haben. Ein zarter Wink mit dem Zaunpfahl sozusagen.


Auch die Bergführer – zähe, verwegene Typen, unleidlich und sympathisch zugleich, wie alle eingefleischten Bergfüchse – konnten Zoryana nicht von ihren Plänen abbringen. Ich freundete mich mit einem Schweizer Bergsteiger an, der sich entschlossen hatte, es nicht zu versuchen: Es hatte seit Wochen nicht mehr geschneit am Chimborazo, der Weg führte durch blankes Eis, die Erfolgsquote lag gegenwärtig bei etwa 10 %.


Um 21 Uhr am selben Abend leuchtete mir jemand mit einer starken Taschenlampe ins Gesicht. Es war unser Bergführer, ein elastischer Typ namens Segundo, gefühlt zwei Köpfe größer als alle anderen Ecuadorianer. Wir schlüpften leise in unsere Polarforscherkostüme und ließen uns von drei Bergführern Zentimeter für Zentimeter durchchecken. Klettergurt, Gamaschen, Steigeisen. Sie inspizierten auch meinen Rucksack. Mein Plan, mit doppeltem Gewicht und allerhand Extrakleidung aufzusteigen, missfiel ihnen sehr, aber daran führte kein Weg vorbei. Zoryana bewegte sich in der Höhenluft auch ohne Gepäck eher bedächtig.


Zunächst verzichteten wir auf die ellbogenlangen Fäustlinge und die schweren Daunenjacken, aber als wir uns dem oberen Ende eines langen, langen Grats näherten, wurde es plötzlich erbärmlich kalt. Gegen 1 Uhr nachts hatte es geschätzte -15 °C. Meine Atemwolken kondensierten in meinem Bart, ich beschloss, dieses Algengeflecht so bald wie möglich loszuwerden. Kurz nach 2 Uhr morgens klagte Zoryana erstmals über die dünne Luft.


Auch ich spürte, dass die Luft dünn geworden war, aber es machte mir nichts aus, und zwar überhaupt nichts! In dieser sternenklaren Nacht hätte ich Bäume ausreißen können. Der Bergführer meinte, dass ich den Chimborazo wohl laufend bezwingen könnte, wenn ich wollte.


Der Traum zerplatzte ganz leise auf 5.450 m, als Zoryana erste Anzeichen einer Höhenkrankheit zeigte. Ich verfügte einen sofortigen Abstieg, Segundo nickte bedauernd – tatsächlich muss es wie Weihnachten gewesen sein für ihn. Als wir Zoryana noch ein paar Augenblicke verschnaufen ließen, war mein Blick bei der Taschenlampe, die einige hundert Meter über uns immer wieder kurz aufblitzte. Das da oben war ein steiles Eisband in einer 6.000 Meter hohen nachtschwarzen Wand, aber es war ein Weg. Ganz oben am Chimborazo muss man bisweilen ein paar Gletscherspalten überspringen, aber man muss kein Eiskletterer sein. Eispickel und Steigeisen sind nicht wirklich schwer zu handhaben, und ich hielt das Risiko, auch das Erschöpfungsrisiko, für überschaubar (Das letzte Wort hat natürlich immer der Bergführer). Was hier zählte, war – nicht nur, aber vor allem – der Wille, und der war vorhanden. Aber nun gab es nichts mehr zu diskutieren. Segundo erzählte uns ein paar nette Anekdoten und Schauergeschichten, um uns beim Abstieg die Zeit zu vertreiben. Als gegen sechs Uhr früh endlich die Hütte aus dem Morgennebel auftauchte, konnten wir kaum noch die Augen offenhalten.


Ein paar Stunden später waren wir bereits auf dem Weg ins Tal, es war Zeit für ein bisschen Sauerstoff. Meine Enttäuschung war groß, aber das behielt ich für mich. Das Scheitern war selbstverschuldet, ich hätte eben doch einen zweiten Bergführer engagieren müssen. Segundo und der Hüttenwirt machten mir ein Angebot für einen Aufstieg am selben Abend (solange ich noch akklimatisiert war), aber nach einem bitteren Gewissenskampf (Ich hatte da zwei Stimmen im Kopf, die eine schrie „schlafen“, die andere brüllte „Gipfel“) schlug ich es aus – die Aussicht auf eine weitere durchwachte Nacht schmeckte mir in diesem Moment gar nicht. Schweren Herzens verschob ich meinen Gipfelsieg auf unbestimmte Zeit und an einen unbestimmten Ort… Ich reise nicht um den halben Erdball, um einen Berg zu besteigen*. Das Wissen, dass es auch näher an Europa ein paar hohe Berge gibt, z.B. in Kirgisistan, tröstete mich ein bisschen. Am nächsten Morgen fotografierte ich im Niemandsland hinter Riobamba einen coolen Zug.

 

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*Blablabla… Für einen Bericht zu meiner Parinacota-Besteigung im August 2017 hier klicken.
 

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