Ein Wienerschnitzel im Urwald

Zoryana wollte der österreichischen Botschaft in Lima zwecks Papierkriegs einen Besuch abstatten, was rasch erledigt war, weil sich der Botschafter nicht für uns interessierte. Im Weggehen blätterte ich noch kurz in einer Broschüre, die über angeblich bedeutsame österreichisch-peruanische Kooperationen informierte und stieß darin auf einen Artikel über Pozuzo. Von diesem Ort hatte ich kurz vor Abreise erstmals gehört, ein Freund hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass man im peruanischen Dschungel bei Bedarf jederzeit ein Wienerschnitzel kriegen kann – den Namen des Ortes hatte er allerdings nicht gewusst, und ich hatte nicht nachgeforscht. Unsere Reiseroute war glücklicherweise nur in Grundzügen festgelegt, und Ceviche hatten wir in den letzten Wochen mehr als genug gegessen. Los gings.


Die Fahrt im Nachtbus dauerte gute zehn Stunden. Es war eine dieser verrückten Kurvenfahrten, bei denen man sich scheinbar endlos um die eigene Achse dreht. Wir schraubten uns unendlich lange in die Berge hinauf und dann hinunter in den Regenwald, nach Oxapampa. Ein Minibus brachte uns alsdann nach Pozuzo. Das altersschwache Gefährt klammerte sich hoch über der Schlucht an ein dünnes, schlaglochgespicktes Schotterband, bei den seltenen Begegnungen mit anderen Fahrzeugen drehte sich mir der Magen um… Aber ich wiederhole mich. Nach zweieinhalb Stunden Fahrt wurde die Schlucht breiter und wich einem hübschen Tal. Wir passierten ein Haus mit der Aufschrift „Tirol – da ist was los!“ und wenig später einen Torbogen mit der Aufschrift „Willkommen in Pozuzo – die einzige deutsch-österreichische Kolonie seit 1859.“


In der Nähe der Bushaltestelle warb ein Schild über einem Tor für die „Albergue familiar“ von „Frau Maria Egg“, und dann hörten wir plötzlich Tirolerisch.


Wie es dazu kommt? Um die Mitte des 19. Jahrhunderts äußerte die peruanische Regierung den Wunsch, die unzugänglichen Dschungelgebiete im Landesinneren zu kolonialisieren. Man warb aktiv um Zuwanderer, und anno 1857 stach dann in Belgien ein Schiff mit 180 Tirolern (aus Silz und Umgebung) sowie 120 Rheinländern in See.


Man hatte den Auswanderern eine fertige Straße an ihren Bestimmungsort versprochen. Als die Reisenden nach fürchterlichen Strapazen (u.a. mussten sie mit Kind und Kegel zu Fuß den 4.818 Meter hohen Ticlio-Pass überwinden, den wir bequem im Nachtbus passierten) im Dschungel ankamen, stellte sich allerdings heraus, dass die Straße nur zu einem kleinen Teil gebaut worden war. Die Siedler brauchten zwei Jahre, um sich einen Weg nach Pozuzo zu bahnen. Viele von ihnen überlebten die Anstrengungen (Klima, Hunger…) nicht, einige suchten sich andere Ziele. Von den 300 Aussiedlern kamen letztendlich nur 170 in Pozuzo an. Dass die Gruppe nicht auseinanderfiel, war, wie es heißt, vor allem dem Pfarrer Josef „José“ Egg zu verdanken, nach dem heute die Schule benannt ist. Knapp zehn Jahre später stießen weitere 300 Tiroler und 20 Bayern dazu. Die Straße wurde erst 120 Jahre später fertig gestellt, bis dahin war die Kolonie nur per Maultier oder zu Fuß erreichbar.


Maria, die erste Tirolerin, die wir trafen, begrüßte uns aufs Herzlichste. Sie vermietete uns für wenig Geld einen wunderhübschen Bungalow und erzählte uns spannende Geschichten aus ihrer Kindheit und aus der Gegenwart. Wir erfuhren, dass sie und ihre Geschwister zu den Letzten in Pozuzo gehören, die das Tirolerische als Muttersprache sprechen. Das Dorf war bis vor rund 35 Jahren weitgehend isoliert, Maria begann erst im Alter von acht Jahren, Spanisch zu lernen.


Als sich zur Jahrtausendwende ein Ende des Terrors (Sendero Luminoso) abzeichnete, kehrten die Tiroler (Die Deutschen haben sich, da sie in der Unterzahl waren, im Lauf der Zeit weitgehend assimiliert) aus dem Limaer Exil zurück und gründeten eine Bürgerwehr, was den Ort zu einem der ersten im Dschungel machte, an denen man sich ohne größere Gefahr für Leib und Leben wieder niederlassen konnte. In der Folge strömten die Peruaner ins Dorf und bildeten bald die Mehrheit. Heute sprechen nur mehr die Alten fließend Tirolerisch. Die Kinder der Alten verstehen alles und sprechen wenig, und die Kinder der Kinder lernen Deutsch als Fremdsprache in der Schule (zwei Wochenstunden). In ungefähr 20 Jahren wird das Tirolerische in Pozuzo ausgestorben sein.


Bisweilen werden die Alteingesessenen von den Peruanern angefeindet – was aber nichts daran ändert, dass sich die Tiroler Tänze, das Bier, die Trachten und das Essen gut vermarkten lassen. Pozuzo mutiert so allmählich zu einem kleinen, aber feinen Touristenort.


Pozuzo liegt auf 800 Metern mitten im Dschungel! Trotzdem vermitteln die grünen Berge, auf denen die Rinder weiden und – bei den älteren Häusern – das verbaute Holz eine gewisse Tiroler Atmosphäre. Die Avocado, die Ananas, die Mango und die Sternfrüchte, die aus Marias Garten stammen und die sie uns zum Frühstück servierte, verliehen dem Tirolerischen aber sozusagen eine peruanische Note!! Auch das Brot und die Azará-Marmelade waren aus Eigenproduktion.


Das Tirolerischste, was es neben dem alten Friedhof in Pozuzo gibt, ist das Haus, in dem die Egg-Geschwister aufgewachsen sind. Ein Traum von einem Tiroler Bergbauernhof! Außerhalb des Dorfes, mitten im Wald gelegen, über eine Hängebrücke zu erreichen und von Bananenstauden umgeben. Dreistöckig, aus Holz, mit Holzschindeln auf dem Dach.


Im Inneren finden sich all die Gerätschaften, die man auf Tiroler Bauernhöfen in der Vergangenheit so gebraucht hat und zahlreiche Erinnerungsstücke – uralte, vergilbte Bücher („Das Leben der Heiligen“, „Was koche ich heute?“) und die Zigarrenkiste von Marias Vater – samt Inhalt. Das Wasserrad, vor dem Maria als kleines Mädchen schwarz-weiß fotografiert wurde, ist leider nicht mehr da.


Das Haus ist das Geburtshaus der 13 Egg-Geschwister und wurde annodazumals von bis zu 25 Personen bewohnt. Heute steht es leer. Maria war im Jahr 2008 erstmals in Österreich, seitdem arbeitet sie vier Monate im Jahr auf einer Schihütte im Zillertal. Den Rest des Jahres bewirtet sie ihre Gäste im peruanischen Dschungel. Ihr Tirolerisch enthält immer wieder Ausdrücke, deren Existenz im modernen Tirolerischen ich eher bezweifeln würde, z.B. „Nala“ für „Großtante“, „Goggalan“ für „Eier“ und „galli“ für „vielleicht“.


Und dann das Wienerschnitzel, Oida! Marias Bruder heißt Andreas (das zweite A dürfte bei der Einschulung verlorengegangen sein, mittlerweile schreibt er sich Andrés) und betreibt im Zentrum von Pozuzo den „Gasthof Tiroler Adler“. Auf Spanisch nennt er sein Wirtshaus aus Marketinggründen „El Típico“. Wir nahmen Platz, studierten begeistert die zweisprachige Speisekarte und überfraßen uns mit Stil.


Ein bisschen eigentümlich ist es schon, im peruanischen Dschungel zu sitzen, Schnitzel zu futtern und DJ Ötzis „Einen Stern“ zu hören. Das Wienerschnitzel war leiwand und wurde mit Erdäpfelsalat serviert, Gulasch und Spätzle wurden ebenso von uns verkostet wie gebratene Yucca, Apfel- und Bananenstrudel. Dazu Säfte aus allen Früchten, die der Dschungel hergibt.


Andreas ist Baujahr 1944 und war gemeinsam mit seiner Schwester erst im Jahr 2008 – auf Einladung der Gemeinde Silz – erstmals in Tirol. Der jetzige Wirtshausbesitzer war früher Bürgermeister, er erzählte uns stolz von seinem wichtigsten Projekt – der Straße nach Pozuzo. Vor seiner Zeit habe man sieben Tage gebraucht, um nach Lima zu kommen, davon seien vier Tage Fußmarsch gewesen. Der neue, peruanische Bürgermeister stecke das Geld lieber selber ein.


Der Weiler neben Pozuzo heißt Prusia, halb im Scherz erzählte Andreas, dass man die Deutschen nach Prusia ausgesiedelt habe, als es beim Fußball zu Schlägereien gekommen war. Der Fluss sei die Grenzlinie.


Auch beim Bier-Johann von Pozuzo machten wir Station! Johann war in seinem ganzen Leben nie in Österreich, Kolumbien würde ihn eher interessieren. Wegen der Frauen, wie er meinte. Als Kind hat dieser Johann ausschließlich Tirolerisch gesprochen, danach war er acht Jahre in der Stadt und hat vieles vergessen. Der Johann braut sein eigenes Bier und schenkt einmal im Jahr beim „Pozuzofest“ aus – mit Dirndl, Lederhose und allem, was dazugehört! Er zeigte uns eine Tafel Schokolade und begann plötzlich zu strahlen: „Mei Tochter is auf Spanien, Francia auffigfoan, hod ma ebbas mitbrocht!“


Im Wald der Pozuziner findet man neben Kühen auch Ameisenbären und Faultiere, Maria erzählte uns, dass sie als Kind einmal von einem aggressiven Buschmeister verfolgt worden war. Als ich von Marias Bauernhof zurück ins Dorf ging, begegnete ich einer unheimlich langen, dünnen, sich in wahnsinniger Hast davonwindenden Schlange.


Wir kauften in einem kleinen Laden mit dem Namen „Der Wald“ ein paar Mitbringsel, ließen uns von Andreas versichern, dass er uns seine Memoiren zukommen lassen würde, sobald sie fertig seien, besuchten das Dorfmuseum und wanderten ein bisschen in der Gegend herum. Dann verabschiedeten wir uns.

 

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