Die Altgläubigen von Toborochi

Zoryana hatte herausgefunden, dass es in Bolivien einige kleine Kolonien von russischen Altgläubigen gibt. Mit Altgläubigen zu kommunizieren ist nicht so einfach, und außerdem fallen wir sowieso lieber mit der Tür ins Haus… Von Santa Cruz ging es per Minibus nach Montero, von Montero per Sammel-Taxi nach Chané, und dort war ein Taxifahrer für einen Wucherpreis bereit, uns die letzten 15 Kilometer nach Toborochi zu führen. Der Feldweg nach Toborochi besteht vor allem aus riesigen Schlaglöchern, es war ein abenteuerlicher Ritt durch die Finsternis. Spät am Abend standen wir vor dem Haus des Bürgermeisters, wo vermutlich längst alle schliefen, und kamen uns ein bisschen dumm vor.


Da öffnete sich eine Tür und am Gartenzaun stand mit einem freundlichen Lächeln – eine Russin. Sie begrüßte uns mit einem russischen „Straste“. Zoryana und ich strahlten um die Wette. Die Frau des Ortsvorstehers wies einen Indio an, uns zum Gästehaus zu führen und lud uns ein, ihnen am nächsten Tag beim Frühstück Gesellschaft zu leisten. Das Gästehaus, etwas abseits in einer Wiese gelegen, war offenbar seit längerer Zeit ungenutzt gewesen. Unser Zimmer war übersät mit toten Insekten, es war aber trotzdem recht brauchbar. Als ich die Tür zum Bad öffnete, was nur mit Gewalt möglich war, fielen zwei Frösche vom Türrahmen herunter, und im Mistkübel lag eine tote Schlange. Der Indio schaffte es nicht, das Wasser zum Fließen zu bringen. Als unangemeldeter Gast übt man sich besser in Bescheidenheit.


Am nächsten Morgen wurden wir wiederum aufs Freundlichste empfangen und wir bekamen russische pelmeni zum Frühstück! Als wir aufgegessen hatten, gesellte sich Martjan, der Bürgermeister der altrussischen Kolonie, zu uns, und erzählte uns ihre Geschichte: Als es nach der Oktoberrevolution plötzlich nicht mehr opportun war, religiös zu sein, zogen einige starowery, wie die Altgläubigen in Russland heißen, zunächst nach China. Als das Leben auch dort anstrengender wurde, reisten sie weiter nach Brasilien, und landeten schließlich in Bolivien, wo niemand nach Herkunft oder Religion fragte und wo das Land billig war.

 

Die allermeisten Dorfbewohner sind in ihrem ganzen Leben noch nie in Russland gewesen. Die russische Sprache haben sie sich trotzdem erhalten. Sie ist gespickt mit Historismen, Wörtern, die im modernen Russland so nicht mehr existieren: Lisaped für „Fahrrad“, schypko für „sehr“, tudy, sudy für „hier“ und „dort“, gostite als freundliche Aufforderung, zuzugreifen. Statt spasiba („danke“) sagen sie spasi Christos. Außerdem werfen sie immer wieder spanische Wörter ein, mercado und Alemania, zum Beispiel. Wir waren begeistert.


Die Altgläubigen sind ein arbeitsames Völkchen, aber wir hatten Glück: Es war Sonntag, und der dient den Altgläubigen zur Erholung. Martjan zeigte uns seinen exotischen Obstgarten, den wir ausgiebig verkosten mussten, und lud uns dann zu einer Rundfahrt über seine Ländereien ein. Es wurde eine lange Fahrt, denn die Altgläubigen besitzen eine ganze Menge: Riesige Fischteiche, Kokosplantagen, Bohnenfelder, wertvolle Hölzer und sogar eine kleine Fabrik, in der Holz imprägniert wird. Wir stoppten in einem Wassermelonenfeld, wo wir wieder probieren durften, und schließlich bei einem Holzpavillon an einem Fischteich, wo wir es uns in Hängematten gemütlich machten. Es ist der Lieblingsort von Martjan, er liegt hier gerne an Sonntagen und schaut den Affen zu, die im Wald hinter dem Fischteich herumturnen.


Er erzählte uns auch von seinem Sohn. Dieser hatte sich in ein Mädchen verliebt, das daraufhin von seiner Familie in ein sibirisches Kloster geschickt worden war. Die Tante des Mädchens beschlagnahmte sicherheitshalber auch die Dokumente. Der Sohn reiste von Bolivien nach Sibirien, durfte die Angebetete aber nicht mitnehmen. Als sich das Mädchen schließlich selbst befreite, war der Sohn schon anderweitig verheiratet (Die Altgläubigen heiraten sich immer gegenseitig, wenn nötig, werden dazu auch Kolonien in Alaska aufgesucht).


Martjan befragte uns auch zum Leben in Russland und wollte von uns wissen, was wir von ihrem Leben in Bolivien hielten. Er dankte uns für die Erkenntnis, dass es keinen „besten“ Ort zum Leben gibt. Zuhause ist man dort, wo man sich ein Zuhause schafft.


Im weiteren Verlauf der Rundfahrt sahen wir ein Krokodil und stöberten eine gigantische Eidechse auf. Das unerhört breite und gut einen Meter lange Reptil lag direkt vor dem Wagen am Weg und strampelte wahnsinnig schnell und asynchron mit den dicken, kurzen Füßen, um von uns wegzukommen.


Nach der Exkursion mit Martjan gingen wir spazieren und stießen auf eine Gruppe von Mädchen, alle irgendwo zwischen 8 und 14 Jahre alt und hübsch anzusehen: Die Kleider werden von den Altgläubigen in aufwendiger Handarbeit selbst hergestellt. Sie luden uns ein, Volleyball mit ihnen zu spielen, und Flaschendrehen. Auf einer bolivianischen Wiese zu sitzen und mit altgläubigen russischen Kindern Flaschendrehen zu spielen, das war schon ziemlich eigenartig. Und sehr amüsant. Benannt werden die Kinder nach den Heiligen, die an ihrem Geburtstag gefeiert werden, eins der Mädchen hieß z.B. Solomonija.


Ein kleines Mädchen kam über die Wiese spaziert und setzte sich etwas abseits von uns ins Gras. Sie hatte ein schönes dunkelrotes Kleid an, zweifellos von ihrer Mutter genäht. Ihre Haare waren blond, die großen Augen verrieten Neugier, aber vor allem Anmut! Ein freundliches Lächeln umspielte ihren Mund. Diese kleine Russin, die in ihrem Leben noch nie in Russland gewesen war, war das Fotomotiv schlechthin. Aber die Kinder hatten klargestellt, dass sie nicht fotografiert werden wollten („Sonst schimpft die Mama“). Grund dafür waren einige russische Journalisten, die das Dorf in der Vergangenheit heimgesucht hatten – die Altgläubigen hatten die Bilder dann zu ihrem Ärger im Internet gefunden.


Die Kinder sprachen im Gegensatz zu den Erwachsenen mit einem deutlichen Akzent, Infinitive ersetzten bisweilen Personalformen und auch die Betonung war nicht immer da, wo sie hingehört. Ein immer noch sehr gut verständliches, aber doch schon entfremdetes russisches Kauderwelsch. Sie erzählten uns, dass sie teilweise erst mit elf Jahren eingeschult würden und dass ihnen bliny, russische Palatschinken, noch besser schmeckten als pelmeni, die Teigtaschen. Eines der Mädchen hatte ein Handy mit russischen und spanischen Liedern drauf.


Am späteren Nachmittag lernten wir noch einige andere Altgläubige kennen, allesamt sehr nett, die Herren mit Vollbärten, die Damen in adretten Kleidern. Sie unterhielten sich ungezwungen mit uns und waren viel zu gastfreundlich… Von Geld wollten sie nichts wissen. Am Abend fuhren wir zurück nach Santa Cruz.

 

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