Die Odyssee

Donnerstag, 9. August, 3:57 Uhr. Mitten in der Nacht gibt mein Handy plötzlich ganz abscheuliche, lautstarke Geräusche von sich. Verdammt. Ich hätte gerne noch sechs oder sieben Stunden geschlafen. Während ich noch mit meiner Mutter telefoniere, klingelt mein Wecker, und acht Minuten nach vier steht mein Bruder im Zimmer. Das Aufwecksystem hat funktioniert.


Um 4:55 Uhr steige ich mit meiner älteren Schwester Steffi, Jakob, meinem Bruder, und einer Tante in den Zug. Ziemlich genau um sechs geselle ich mich am Flughafen Wien-Schwechat als letzter zu der YFU-Truppe. Alex gibt mir meine Flugtickets bis Kansas City. Ich bin jetzt munter. Von mir aus kann der Spaß beginnen. Und es wird ein Spaß, schon beim Check-In.

 

Ich verabschiede mich von Tante, Schwester, Bruder (Bitte entschuldige die gezerrte Sehne, Jakob!!), von unseren zwei Schwedinnen Lina und Isabel und von Österreich. Um 7:49 Uhr rollt das Flugzeug, wenige Sekunden verfrüht, auf die Startbahn hinaus. Ein paar Berge, dann nur mehr Wolken, bis Frankfurt. Joa schläft die erste Runde.

 

In Frankfurt machen wir uns vergeblich auf die Suche nach dem richtigen Gate und setzen uns schließlich, weil wir Besseres zu tun haben, in ein Café. Wir finden unseren Riesenvogel, eine 747 mit zehn Sitzreihen, dann aber doch noch rechtzeitig.


Der achteinhalbstündige Flug nach Washington war nicht besonders ereignisreich. Die meisten versuchten, ein bisschen zu schlafen, und nach ein paar heftigen Turbulenzen und einer sanften Landung waren wir in Amerika. Am Flughafen die Verabschiedung von denen, die über Nacht in der Hauptstadt blieben. Erst kurz vor der Kontrolle fiel mir auf, dass bei den anderen das Formular DS-2019 in den Reisepass geheftet war und dass es ohne dieses offenbar kein Durchkommen gab. Schön und gut... Nur war dieses Formular in meinem Reisepass nicht zu finden. Meine YFU-Mappe hatte ich im Handgepäck, aber das Formular befand sich nicht darin. Ein paar Meter vor dem Schalter wurde mir plötzlich speiübel. Ich legte meine Mappe ein zweites Mal auf den Boden und durchwühlte fieberhaft jede einzelne Klarsichthülle. Und an was ich nicht mehr geglaubt hatte, geschah: Gemeinsam mit einem Haufen Unsinn fand sich in einer vollgestopften Hülle das Formular DS-2019. Nachdem der Ami nochmals meine Fingerabdrücke genommen hatte, musste ich vor einer kleinen Kamera posieren: „Say cheese!“


Zehn Minuten später hatten wir uns in einem Flughafenlokal bereits unsere endgültige Meinung über Amerika gebildet: Amerikaner sind fett und die gigantischen Gurken in dem Riesenglas an der Theke waren gentechnisch verändert. Marco versuchte, seinen Kaugummi so amerikanisch wie möglich zu kauen, schmatzend und leger.


Wieder etwas später saßen wir in dick gepolsterten Sesseln, tauschten unsere ersten Fotos aus und versuchten, über WLAN ins Internet einzusteigen. Da fragte Marco plötzlich in die Stille hinein: „Na, was walzt denn da herum?“ Es war eine kleine Frau, die mindestens 150 Kilogramm mit sich herumschleppte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt realisierten wir vier, Marco, Freyja, Toni und ich, es endgültig: Wir sind in Amerika!


Noch ein paar Stunden später war es soweit. Mein United-Flug war der einzige, der nach wie vor als „on time“ angezeigt wurde (Freyjas Flug war mittlerweile knapp vier Stunden verspätet), und wir vier standen vor einem Tor, über dem ein Countdown verkündete, dass in fünf Sekunden der nächste Shuttlebus zu meinem Gate abfahren würde. Ich ließ ihn in Frieden ziehen und nahm den nächsten. Noch 30 Sekunden... Die letzten Umarmungen für heute. In der letztmöglichen Sekunde sprang ich durch das Tor und dann war ich alleine.

 

***


Aber auch mein Flug war eine gute Stunde verspätet. Ich nützte die Zeit, um mich mit verschiedenen Amerikanern zu unterhalten. Verschiedene Amerikaner nützten die Zeit, um sich mit mir zu unterhalten. Ich stellte bald fest: Amerikaner sind sehr freundliche, offene Leute. Eine Frau aus West Virginia, die in Topeka, Kansas, gelebt hatte, meinte: „I think you will enjoy Kansas!“


Für das Flugzeug nach Harrisburg wurde nach dem Captain gesucht, vorsichtshalber zeigten die Monitore gleich vier Stunden Verspätung. Mein Flieger war diesmal etwas kleiner, rund 80 Sitzplätze. Ich setzte mich neben einen Businessman aus Kansas, der mir endlich die richtige Aussprache von „Olathe“ beibringen konnte: Oléjfa (mit th). Das Flugzeug fuhr eine Weile lang vor sich hin, dann beschleunigte es. Ich sah ein Meer von blauen Lichtern vorbeirasen, dann ging’s, zum allerletzten Mal, rapide aufwärts.


Zweieinhalb Stunden später erwachte ich mit tränenden Augen (Mein Tag dauerte nun immerhin schon fast 28 Stunden) und sah diesmal ein orangegelbes Lichtermeer unter mir: Das war Kansas City. Nach der Landung um 12:35 AM (es war jetzt halb acht Uhr morgens in Österreich) wünschte ich dem Businessman eine gute Nacht und marschierte zum Ausgang. Ich hatte gedacht, mich vor dem Verlassen des Sicherheitsbereiches noch irgendwo frisch machen zu können, aber dem war nicht so: Bei Inlandsflügen brauchen die Amerikaner keine Sicherheitsbereiche. Zwei Minuten später begrüßten mich Ronda Stiefel, Allison, Elliott und Yui.


Im Auto unterhielt ich mich recht gut mit Mrs. Stiefel. In der Prärie hinter Baldwin City angekommen, begrüßte mich nebst zwei Retrievern John Stiefel, der Herr des Hauses, und trug meinen Koffer nach oben. I had a shower and fell, finally, at 3:00 AM, in a soft American bed.