Großstadtgeschichten, Episode 5: Der Nachbar

„Und sooooo still ist die Wohnung“ hatte der Makler gestrahlt, als er sie uns an einem tristen Novembertag aufgesperrt hatte. Dass er dem Nachbarn über uns eine Monatsmiete erlassen hatte, damit er seine verdammte Flimmerkiste einmal für eine halbe Stunde deaktivierte, wussten wir damals noch nicht.


Mittlerweile wissen wir es. Und dass die Nachbarin unter uns jede Nacht einen anderen Liebhaber empfängt, wissen wir auch. Dass auf sämtlichen Balkonen, die uns direkt gegenüber liegen, im Sommer, wenn man vor Hitze nur bei offenem Fenster schlafen kann, Nacht für Nacht wilde Partys gefeiert werden, ist uns jetzt bewusst. Und dass der Nachbar über uns die ganze Nacht Radio hört, weil er müde ist, wenn er den ganzen Tag ferngeschaut hat, haben wir zur Kenntnis genommen. Aber wir haben noch nicht resigniert.


Zuerst habe ich es auf die freundliche Tour probiert und dem Nachbarn gesagt, dass ich sein Haus anzünden werde, wenn er noch einmal laut ist. Oh Mist, geht ja nicht, wir wohnen auch da. Wahrscheinlich habe ich es ein wenig anders formuliert.


Dann habe ich einen Brief geschrieben. Ich habe ihm schriftlich mitgeteilt, dass er ein blöder Affe ist und dass ich ihn anzeigen werde, wenn er noch einmal was von Justin Bieber spielt nach 22 Uhr (im Winter nach 17 Uhr). Dem Makler habe ich auch einen Brief geschrieben, in dem ich ihm mitgeteilt habe, dass er ein verdammter Lügner ist.


Dann habe ich ein kleines Katapult, das vom Ritter-Spielen in der Kindheit übrig geblieben ist, reaktiviert und auf den Gewandkasten am Fußende unseres Bettes gestellt. Das leichte Ende des Hebelarms habe ich mit einer Schnur an meiner großen Zehe befestigt. Wenn mir das Lied, das oben im Radio läuft, nicht gefällt oder ich dem Nachbarn eine gute Nacht wünschen möchte, ziehe ich an der Schnur, und das andere Ende des Katapults, auf dem ein massiver Pflasterstein befestigt ist, kracht gegen die Decke. Um Weihnachten herum ist es noch schlimmer als sonst, dann stochern wir zusätzlich mit zwei Besenstielen nach oben, meine Frau und ich, und lassen eine kleine Drohne gegen sein Fenster fliegen. Wenn unser Nachbar noch einmal „Last Christmas“ spielt, werde ich die Drohne mit einem Sprengkörper ausstatten.


Aber noch ist es nicht so weit. Meine Frau und ich bereiten uns also auf die Nacht vor, ich befestige das Katapult an meinem Zechn und meine Frau reicht mir meinen Besen und lehnt ihren an die Wand neben ihrem Nachtkastl. Wir lauschen angestrengt und versuchen, herauszufinden, mit welchem Lied unser Nachbar uns heute das Einschlafen erschweren möchte. Heute spielt er „Poker Face“ von Lady Gaga. Meine Frau und ich sehen uns an, dann schüttelt sie sachte den Kopf – nicht schlecht, heißt das, aber es ist nicht unsere Lieblingsversion (Unsere Lieblingsversion ist das Original von Cartman). Gleichzeitig greifen wir nach unseren Besenstielen und beginnen mit aller Kraft gegen die Decke zu hämmern.


Oben wird es still, unser Nachbar plant sein nächstes Manöver. Dann hat er ein Lied für uns ausgewählt und die Lautstärke noch einmal deutlich erhöht: „What’s in your head, in your head?“ dröhnt es von oben, und „Zombie, zombie, zombie-ie-ie-ie …“


Eine eindeutige Kampfansage! Fieberhaft tippt meine Frau auf ihrem Smartphone herum, während ich die Boxen aufdrehe. Wenige Sekunden später ballern Tic Tac Toe für uns zurück: „Ich find dich scheiße, so richtig scheiße, so richtig sch-sch-sch-sch-scheiße!“


Die Zombie-Rufe oben verstummen, jetzt ist es wirklich still bei unserem Nachbarn. Haben wir zu heftig reagiert? Meine Frau und ich blicken uns erschrocken an, dann hören wir auch schon ein dumpfes Schluchzen durch die Decke. Ganz eindeutig. Das Weinen in der Wohnung über uns hebt sich deutlich vom Gestöhne in der Wohnung unter uns ab. Unser Nachbar weint. Und wir sind schuld daran.


Wir sehen uns betreten an, als sich ein wummernder Bass den Weg in unser Schlafzimmer bahnt: „Soooorry for Party Rocking“. Ein Kontrollblick zu meiner Frau, sie nickt mir zu: Entschuldigung angenommen. Ich frage sie, ob ich „Sweet Child O‘ Mine“ von Guns N‘ Roses aufdrehen soll. Sie wendet ein, dass er möglicherweise kein Englisch versteht, also probieren wir es mit „Weil i di mog“. Dann warten wir gespannt auf die Reaktion.


Von oben sind Mikrophongeräusche zu hören, unser Nachbar hat seine Karaoke-Anlage eingeschaltet. Dann röhrt er los: „Marmor, Stein und Eisen bricht …“ Wir haben den liebsten Nachbarn der Welt!


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Die schönste Aussicht ist die auf die Nachbarn (pixabay.com)
Die schönste Aussicht ist die auf die Nachbarn (pixabay.com)