1. Adventsonntag, 16:00 Uhr
    
    Als zielstrebiger Mensch mag ich es nicht so gerne, wenn ich zu meinem Ziel strebe und dann nach fünf Metern absterbe, weil eine Metallstrebe auf mich lauert, auf die eine gleich- oder
    gemischtgeschlechtliche Ampel montiert ist, die 1,5 Sekunden, bevor ich dort bin, auf Rot springt und dann nie wieder grün wird. Nervös blicke ich über meine Schulter, meine Freundin kommt auch
    gerade angeradelt. Sie lächelt mir aufmunternd zu. „Wir schaffen das“, soll dieser Blick bedeuten. Ich bin mir da nicht so sicher und werfe einen Blick auf meine Uhr. Punkt vier. Wir wollen zum
    Christkindlmarkt auf ein Langos und ein Heferl Frittierfett zum Trinken.
    
    1. Adventsonntag, 16:03 Uhr
    
    Es ist noch immer rot. Mit der letzten Novelle sollten die Ampelphasen fußgängerfreundlicher gestaltet werden, sodass man beispielsweise um Mitternacht nicht mehr stundenlang darauf warten muss,
    bis man eine menschenleere Straße überqueren darf. Unsere Ampel hat vermutlich noch nichts von dieser Novelle gehört, denn sie zeigt rot. Noch vier Stunden und 57 Minuten, dann sperrt der
    Christkindlmarkt zu. Der Christkindlmarkt ist ungefähr 500 Meter von uns entfernt.
    
    1. Adventsonntag, 17:30 Uhr
    
    Ich frage meine Freundin, ob wir umdrehen sollen, die Ampelphasen in Wien dauern mir einfach zu lange. Sie meint, ich solle mich nicht so anstellen. Und überhaupt, was soll eigentlich dieser Hass
    auf die Stadt. Ich solle lieber froh sein, in der besten Stadt der Welt leben zu dürfen. Das sehe ich ein. Außerdem habe ich, als ich mich umgedreht habe, gesehen, dass die Ampel hinter uns
    inzwischen auch rot ist. Wir sind also gefangen.
    
    1. Adventsonntag, 21:00 Uhr
    
    Der Christkindlmarkt hat zugesperrt. Macht nichts, meint meine Freundin, morgen ist auch noch ein Tag. Wien bei Nacht hat doch auch was, und die roten Ampeln, die sich in einer geraden Linie bis
    zum Horizont erstrecken, sind genauso schön wie der Herzerlbaum vor dem Rathaus. Wir richten uns für die Nacht ein, ich decke mich mit meinem Fahrrad zu. Leider fehlt eine Speiche.
    
    2. Adventsonntag, 21:00 Uhr
    
    Nach genau einer Woche kenne ich jetzt die Lebensgeschichten von allen anderen, die mit uns vor der roten Ampel warten. Justin ist ein Student aus Amerika, der nur kurz seinen Müll entsorgen
    wollte. Leider stehen die Container für Glas und Metall auf der anderen Seite der Kreuzung. Mona-Lisa wohnt im 6. Bezirk und war vor einer Woche am Christkindlmarkt verabredet. Vielleicht sind
    die anderen ja noch da, meint sie, aber sie sei sich nicht ganz sicher. Genoveva hat zwei Tage vor Weihnachten eine Prüfung an der Uni, zu der sie nicht zu spät kommen darf. Und Mario ist mit
    seinem Scooter unterwegs zur U-Bahn-Station. Vor dem Intermezzo an unserer Ampel hat er schon zwei Wochen an einer anderen Ampel gewartet.
    
    3. Adventsonntag, 21:00 Uhr
    
    Es gibt kein Weiterkommen, und schön langsam gehen uns die Adventsonntage aus. Jaja, sagt meine Freundin. Sei nicht immer so ungeduldig. Ich weiß eh, dass am Land alles besser ist. Sagt sie und
    verdreht die Augen.
    
    24. Dezember, 18:00 Uhr
    
    Ich habe meine Hände auf dem Asphalt festgeklebt, aus Protest gegen das Klima und gegen die rote Ampel. Mehr denn je fühle ich, dass ich in meinem Herzen ein Grüner bin. Leider ist mir Sebastian
    Kurz mit dem Geilomobil über die Finger gefahren.
    
    Irgendwann im Juli
    
    Ich hab meiner Freundin einen Heiratsantrag gemacht. Endlich, hat sie gesagt und mir vom Fahrrad aus einen Kuss gegeben. Dafür hast du jetzt aber auch eine ziemlich lange Rotphase gebraucht, bis
    dir das einmal eingefallen ist.
    
    August
    
    Wir haben geheiratet. Wie’s ausschaut, werden wir vor dieser Ampel, an dieser Kreuzung, in diesem Bezirk auch irgendwann eine Familie gründen.
    
    Mai
    
    Wir haben eine Familie gegründet. Meine Frau möchte, dass unser Kind Rotraud heißt. Ich bin eher für Cordula Grün.
    
    5 Jahre später
    
    Ich hab Cordula klingeln gesehen, und dann hat sie mich noch gefragt, ob die Ampel irgendwann grün werden mag. Ich hab mich zu ihr umgedreht und ihr erklärt, dass sie nicht so ungeduldig sein
    darf. Wir leben in einer roten Stadt und so eine grüne Verkehrswende passiert nun einmal nicht von heute auf Dienstagmittag. Während ich mit Cordula gesprochen habe, ist die Ampel auf Grün
    gesprungen, habe ich später erfahren. Als ich fertig war mit meiner Belehrung und den Blick wieder nach vorne richtete, war die Ampel natürlich längst wieder rot. Was aber wurscht ist, denn in
    fünf Jahren ist bekanntlich auch noch ein Tag. Und einen Christkindlmarkt gibt’s ja zum Glück jedes Jahr.
    
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