Das größte Abenteuer

Ich hatte die ganze Welt bereist, hatte jahrelang auf einer einsamen Insel ausgeharrt, im Hundeschlitten siebzehnmal die Welt umrundet, mit tollwütigen Krokodilen gekämpft und mit Amerikanern unter einem Dach gelebt. Und dann fühlte ich, dass das noch nicht alles gewesen sein konnte. Dass ich bereit war für das ganz große Abenteuer. Ich packte meine Sachen und fuhr nach Graz.

 

Kaum angekommen, erlebte ich auch schon die erste Überraschung. Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitz: In dieser Stadt lebten Menschen! Ziemlich viele Menschen sogar, alle wuselten durcheinander und wussten offenbar genau, wo sie hinwollten.

 

Es faszinierte mich, dass es Menschen gab, die sich dazu entschlossen hatten, unter diesen Bedingungen zu leben. So weit weg vom Wiener Prater, vom Schloss Schönbrunn und vom Stephansdom. So weit weg von uns Wienern! Ohne jede Kultur und ganz ohne… Ohne was eigentlich? Geschäfte schien es auch hier zu geben, ich sah eine Metzgerei, in der rohes Fleisch verkauft wurde. Später ging ich an einigen Tischen und Sesseln vorbei, in Wien würde man es ein Straßencafé nennen. Bei 18 Grad saßen die Menschen hier auf der Straße und aßen Torte. Die mussten Frostschutzmittel im Blut haben, oder Kürbiskernöl.

 

Das Schicksal hatte diese Menschen hart gemacht, rund um mich sah ich lauter verwegene Gestalten. Ein Mann kam mir entgegen, er schaute wild und gefährlich aus. Der tägliche Kampf ums nackte Überleben hatte sich tief in sein Gesicht eingegraben. Was mochte in diesem Menschen vorgehen, was fühlte er? Hatten die Bewohner dieser Stadt Gefühle?

 

Als es Nachmittag wurde, schienen plötzlich alle Leute einem bestimmten Ort zuzustreben. Ich beschloss, ihnen zu folgen, wobei ich stets darauf bedacht war, in Deckung zu bleiben. Meine Vorsicht zahlte sich aus, denn der Spaziergang endete vor einer senkrechten Felswand mit einem großen Loch. Eine Opferstätte? Einige der Menschen, die in dem Loch verschwanden, trugen kleine Rucksäcke. Und da verstand ich: Die beklagenswerten Einwohner dieser Stadt, jedenfalls ein großer Teil von ihnen, lebten in diesem Höhlensystem. In den Rucksäcken trugen sie alles mit sich, was sie besaßen. Recht viel mehr als eine Flasche mit sauberem Trinkwasser (vermutlich von Hilfsorganisationen aus Wien gespendet) konnte das nicht sein. Ich war erschüttert. Durfte ich diese Menschen ihrem Schicksal überlassen? Vielleicht konnte ich sie irgendwie aufheitern? Sollte ich ihnen ein Eis kaufen?

 

Auf dem höchsten Gipfel von Graz hatten erfahrene Baumeister einen hohen Turm errichtet, um das gelobte Land (Wien) wenigstens sehen zu können. Ein aussichtsloses Unterfangen! Von der Turmspitze konnte man lediglich die Stadt sehen, ein Anblick, an Trostlosigkeit kaum zu überbieten.

 

Ich beschloss, vor meiner Abreise noch einen Blick auf jenes dreckige Gewässer zu werfen, das Mur genannt wird, bog irgendwo um eine Ecke und erstarrte. Vor mir lag ein großes Etwas, ein Etwas, das aussah wie ein Organ, wie ein deformiertes menschliches Herz. Nur war dieses Herz mindestens zehn Meter hoch und fünfzig Meter lang. Ich merkte, wie meine Knie weich wurden, denn plötzlich begann dieser ganze Irrsinn, den ich seit dem Morgen gesehen hatte, Sinn zu machen. Die Puzzleteile in meinem Kopf ergaben ein großes Ganzes, schlagartig wurde mir klar: In Graz herrschte ein atomarer Winter. Deshalb war es hier so kalt, deshalb verbarrikadierten sich die Menschen in einer Höhle, deshalb lag hier dieses aufgequollene Organ. Meine Knie wollten mich nicht mehr tragen, deshalb klammerte ich mich an einen Wegweiser. „Kunsthaus Graz“ stand darauf geschrieben, aber für Kunst hatte ich jetzt keine Zeit. Ich hatte genug gesehen und verließ diese Stadt, so schnell ich konnte.

 

Auf dem Heimweg beruhigte ich mich allmählich, mein Puls raste nicht mehr, und als Wien näher rückte, schöpfte ich neue Hoffnung. Ich würde mich dekontaminieren lassen, und dann würde ich die Wiener Gegend nie mehr verlassen, nicht um alles in der Welt. Graz und der ganze Rest von Österreich waren für mich nun Sperrgebiete, schwarze Flecken auf meiner Landkarte. Sie kümmerten mich nicht mehr.

 

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Graz und das Organ
Graz und das Organ

Kommentar von W. aus NRW:

Es ist eigentlich eine sehr hübsche und lustige Geschichte. Vor allem der Anfang, der an Tucholsky oder Mark Twain erinnert.
Ich sehe allerdings einen deutlichen Bruch in der Perspektive des Erzählers, der am Anfang als überlegener Spötter daherkommt - und man weiß, wie es gemeint ist. Dann aber stellt er sich unerwartet (und unpassend) dumm und weiß die einfachsten Dinge nicht mehr einzuordnen. Das scheint mir nicht ganz zu passen.

 

Kommentar von S. aus Ulm:

Ich bin ja Ulmer, aber was den Grazern fehlt, weiß sogar ich. 1. Wiener Apfelstrudel 2. Donau 3. der Narrenturm (heißt er so?)
Die Dummheit des weltbereisten und überlegen schlagfertigen Mannes finde ich eigentlich sehr verzeihlich. Ulmer sind ja bekanntlich in der ganzen Welt zu Hause, egal ob Peru, Schottland, Vietnam oder Guinea Bisseau. Aber wenn wir über Donau müssen und auf einmal im bayrischen Neu-Ulm stehen, da -ja da beginnt man eben sich zu fürchten.

 

Kommentar von L. aus Wien:

Als Steirer, der seit fast 30 Jahren in Wien lebt hat mich deine kleine Geschichte überzeugt. Alles ist angekommen, jede kleine Andeutung, jedes nur denkbare KLischee hast du ironisch eingebaut und es funktioniert. Auch wenn ich glaube, man muss Ost-Österreicher sein, damit der Text wirklich funktioniert, aber das macht ja nix. Den Bruch kann ich nicht erkennen. Es ist nämlich genau das, was dem 'weltoffenen' Wiener - natürlich wieder klischeehaft - innewohnt: Die ganze Welt gesehen, aber Graz? Wo oder was soll denn das sein? Menschen? Möglich, aber wenn dann sind das doch Wilde (hinterm Semmering). Nicht ganz grundlos wurde der Erzherzog JOhann nicht nach Italien ins politische Abseits geschickt, oder nach UNgarn oder Böhmen oder ans Nordkap. Nein: in die Steiermark.