I. Was immer so los ist
Am Samstag, dem 12. September, fuhr ich übers Wochenende in den Regenwald der Österreicher, nach La Gamba. Ich ging zur Bushaltestelle und anderthalb Stunden später war auch schon der Bus da (Hätte ich auf die richtigen Leute gehört oder würde die Gesellschaft in Pérez aktuelle Fahrpläne aushängen, hätte ich den Bus erwischt, mit dem Dario von San Isidro aus nach La Gamba gefahren ist). Gretel, die ins zehn Minuten entfernte Peje wollte, wartete genauso lang.
Der Fahrer ließ mich nach einer etwas mehr als zweistündigen Fahrt bei Kilometer 37 aussteigen, wo mir ein Typ, den ich nach dem Weg fragte, eine Zahnbürste verkaufen wollte. Eine Stunde Fußmarsch und einen Sonnenbrand später war ich bei der Tropenstation. Etwas dahinter hat jemand ein nobles Urwaldhotel gebaut, wunderschön gelegen, wie eigentlich die ganze Gegend wirklich schön ist. Bei der Tropenstation handelt es sich um eine Forschungsstation und, wie ja allgemein bekannt ist, verkaufen die auch Regenwald, um selbigen zu schützen.
Ich hab Dario und ein paar Ticos getroffen (Dario hat, bevor er nach Longo Mai gekommen ist, ein paar Monate lang auf der Tropenstation mitgearbeitet) und bin dann zurück ins Dorf La Gamba.
Im September gibt es in La Gamba eindeutig zu wenig Touristen. Die Señora, der die Taquería von La Gamba gehört, musste sich erst vom Boden aufrappeln und Tisch und Sessel herbeischaffen, bevor sie mich bewirten konnte. Und Sonia, in deren Soda ich am Abend einkehren wollte, musste erst ein schweres Eisengitter beiseitewuchten. Sie hatte ein Fischkompott mit Bananen für mich, und weil sie mich sympathisch fand, briet sie mir anschließend einen ganzen Fisch ab, Salat gab es auch dazu. Wir haben meine Costa-Rica-Fotos und eine costaricanische Tanzsendung angeschaut, dann bin ich zurück in die Herberge. Die Dusche teilte ich mit einer riesigen Kröte, die sich aufblies, wann immer ich sie wegschubsen wollte.
La Gamba ist ein Echsenparadies, so viele hab ich noch nie auf einem Fleck gesehen. Abgesehen von den blassrosa Geckos, die in jedem costaricanischen Haus herumlaufen, gibt es im Wald und auf der Straße alle Formen und Größen. Als ich am zweiten Tag in der Nähe des Urwaldhotels unterwegs war, stand ich plötzlich einem Kaiman gegenüber. So schnell bin ich, glaube ich, noch nie stehen geblieben. Ein Arbeiter, der in der Nähe beschäftigt war, versicherte mir, dass die Tiere suave (sanft) seien.
Auf dem Rückweg legte ich in Palmar Norte eine Pause ein und fand anschließend in letzter Sekunde heraus, dass ein Autobus, auf dem „Ciudad Neily“ steht, durchaus auch in die Gegenrichtung fahren kann – sonst hätte ich es an diesem Wochenende nicht mehr nachhause geschafft. Prompt versäumte ich in der Dunkelheit meinen Ausstieg in Longo Mai und fuhr dann, um meine Nerven zu schonen, gleich bis zur Endstation, Pérez (umgangssprachlich für San Isidro), mit. Dort erwischte ich den letzten Bus in die Gegenrichtung.
Der 14. war der Montag vor dem Unabhängigkeitstag (15. September). Meinen Unterricht musste ich an diesem Tag ausfallen lassen, weil die Leute bei Tänzen waren oder selber tanzten und einer antorcha-Feier beiwohnten. Mittels Stafette wurde eine Fackel (antorcha) die Interamericana hinuntergetragen. Wir haben uns die Übergabe-Zeremonie im Dörfchen Sonador angeschaut.
Eine Woche später luden mich die „Linzerinnen“ (Ruth, Babsi und Sabine, drei österreichische Sozialarbeiterinnen, die für ein paar Monate in Longo Mai sind) ein, übers Wochenende an den Strand mitzukommen. In Dominical (Pazifikküste) wimmelt's von Amerikanern und anderen Leuten, die keine Ticos sind, Grund genug eigentlich, da nicht hinzufahren. Aber gemeinsam ist's immer lustig... An der Küste von Dominical herrschen extreme Strömungsverhältnisse, man kann aber ins Wasser, und es macht Spaß, vom Strand aus den Surfern zuzuschauen, wie sie über die vier bis fünf Meter hohen Wellen gleiten. Abends fanden wir vor der Disko einen Deutschen mit einem Bratwurstbratgerät („Hat man euch nicht gesagt, dass jetzt Regenzeit ist?“).
II. Was gar nicht geht
Bei den Ticos ist alles tranquilo. Sie haben nie Stress und das Leben scheinen sie immer zu genießen. Leider ist der Begriff „tranquilo“, der im Alltag so viel wie „immer mit der Ruhe“ bedeutet, viel zu weit gefasst. Es werden große Versprechungen gemacht und Pläne geschmiedet, die aber bald vergessen sind. Javier, der mich eingeladen hatte, ihm beim Musizieren zuzuhören, lud mich, als es soweit war, wieder aus, weil er gerade beim Holz sägen war. Immer wieder kommen Leute eine halbe Stunde zu spät in meinen Unterricht und denken sich nichts dabei.
Konfliktscheu sind sie auch, die Costaricaner. Konflikte werden nicht ausgetragen und dadurch nicht unbedingt einfacher. Kaum jemand würde sich im Übrigen anmaßen, mich auf meine Fehler hinzuweisen, wenn ich Spanisch spreche, ungeachtet dessen, dass ich diese Hilfestellung bitter nötig habe (Reina und Adela sind zwei lobenswerte Ausnahmen).
Und dann die Gleichgültigkeit, das „tranquilo“ sein in allen Lebenslagen. Die Bauarbeiter haben's geschafft, die Dorfstraße alle paar hundert Meter aufzureißen und Entwässerungsröhren zu verlegen. Der Schlamm, der sich an diesen Stellen gebildet hat, bleibt allerdings sich selbst überlassen, weshalb die Schulkinder immer dann, wenn es geregnet hat, zu Fuß gehen müssen, weil der Bus nicht über die schlammigen Stellen kommt. Der kleine Valentin scheißt irgendwo vors Haus (Nachdem er mich letztens angepisst hat, weigere ich mich, gewähltere Ausdrücke zu verwenden) und es interessiert niemanden. Viele Jugendliche, insbesondere die Mädels zwischen 15 und 25, tun gar nichts. Bzw. bieten sie Putzen, Kochen und Babysitten an, aber wie viele Putzfrauen, Köchinnen und Babysitterinnen braucht ein Dorf? Mit 16 oder 17 haben viele Mädchen hier Kinder.
III. Was sich sonst so tut
Am 1. Oktober werde ich – den Plänen des Tourismuskomitees folgend – umziehen. Maritza ist eine engagierte Frau und ich mag auch die vier Burschen. Aber schön langsam freu ich mich auf ein paar pupusas bei Edith... Maritzas Kochgeschirr wird auch ohne mich leer: Zuerst schauen die Hühner, ob noch was da ist, dann die Katze, und manchmal krabbelt auch Valentin noch über den Herd.
Ansonsten alles vom Feinsten... Ich lerne mehr und mehr Leute kennen (darunter viel zu viele Deutschsprachige), und es ist immer was los. Mit Fernando laufe ich nach Convento, um dort Mammones-Bäume zu plündern, von den Mädels lasse ich mich auf Lasagne einladen, und ab und zu verirrt sich ein Kolibri in mein Zimmer. Ich arbeite am Feld mit und esse kleine Manzanilla-Bananen und kurze, dicke Cuadrados. Abends hören wir manchmal vor dem Salon Musik, ein paar Jugendliche aus dem Dorf und ich.
In die Bar nach Convento sind wir gepilgert, 45 Minuten Fußmarsch, die Hälfte davon auf der Interamericana (Die Interamericana ist die längste Straße der Welt und die wichtigste Straße Lateinamerikas). Zurück sind wir um zwei Uhr nachts durch die Zuckerrohrfelder und über den Fluss, die letzten ohne Taschenlampe. Einmal hab ich mich in die evangelische Kirche gesetzt, nicht, weil ich spirituelle Bedürfnisse habe, sondern weil die dort voll abrocken.
Nach ein paar Wochen hab ich jetzt das beruhigende Gefühl, dass ich genau hierher wollte, dass dieses auf den Hängen des Talamanca-Gebirges gelegene Dorf, das im Wesentlichen aus einer einzigen Straße besteht, der perfekte Ort ist, um einmal ein paar Monate und meinetwegen auch ein ganzes Jahr lang etwas anderes zu tun.