Russland unzensiert VII

Was in Russland immer wieder besonders ins Auge sticht, ist die Neigung zum Extremen. Im Alltag äußert sich diese Tendenz auf alle denkbaren Arten, zum Beispiel so:

  • Zeitungen hetzen offen gegen Arbeitsplätze stehlende Tadschiken
  • Es ist so gut wie unmöglich, sich dem Korruptionssumpf zu entziehen
  • Ein Arbeiter und später ein Arzt erzählten mir von ihrer Unzufriedenheit über den Ausgang des „Großen Vaterländischen Krieges“ – wenn Hitler gewonnen hätte, wäre die Situation in Russland jetzt „besser“
  • In Moskauer Untersuchungsgefängnissen wird wegen Platzmangels in Schichten geschlafen
  • Ein kleiner Blumenstand an einer x-beliebigen Bushaltestelle in Ischewsk hat 24 Stunden täglich geöffnet
  • Pascha, ein kluger und sympathischer Kerl, spielt inzwischen nicht mehr Paintball, sondern Strikeball, weil da die Schmerzen größer sind
  • In Moskau gibt es neben einer äußerst brutalen Neonazi-Szene auch Szenen, die keinem Außenstehenden wehtun, die aber trotzdem extrem sind – als Beispiele seien die Roofer-Szene genannt, deren Angehörige u.a. 200 Meter hohe durchgerostete sowjetische Radiomasten ohne Sicherung erklimmen, und die Zugfahrerszene, deren Mitglieder u.a. auf U-Bahnen surfen – sie hängen sich vorne dran, hinten dran, oder legen sich auf die Faltenbälge in den Übergängen zwischen den neueren U-Bahn-Waggons. Die, die den Kopf heben, kriegen einen Darwin-Award.

Auf zwei Extreme, die besonders typisch sind für Russland, möchte ich näher eingehen:

 


1. Die Weite


Eines der faszinierendsten Attribute, über die Russland verfügt, ist die unglaubliche Weite in diesem Land. Ein Gebiet, das 200-mal so groß ist wie Österreich, bietet viel Freiraum zum Entdecken. Ein Blick auf die Russlandkarte regt dabei immer wieder zum Kopfschütteln an, in (fast) jeder noch so abgelegenen Region Russlands gibt es Dörfer und, vereinzelt, Großstädte.


Die Frage nach dem Warum ist mindestens dreischneidig. Erstens trifft man in diesen Gebieten bis heute Indigene, die halt irgendwie schon immer dort waren, zweitens gibt es – eine Gemeinheit der Natur – gerade in den nördlichen Gebieten Russlands sehr viele Rohstoffe (Gas, Öl, Gold, Diamanten usw.), und drittens wollte man zu Sowjetzeiten mit der Gründung von Dörfern am Ende der Welt Territorialansprüche untermauern.


Eines der absurdesten Beispiele bietet die Wrangel-Insel im Arktischen Ozean, der letzte Zufluchtsort des Mammuts, 150 Kilometer vom nordostsibirischen Festland entfernt. Die Sowjets hatten hier anno 1926 ein Dorf gegründet, um den Gebietsanspruch gegenüber US-Amerikanern und Kanadiern durchzusetzen. Nach der Wende entvölkerte sich der Ort Anfang der 90er-Jahre allmählich. Die letzte Bewohnerin der Wrangel-Insel wurde im Oktober 2003 von einem Eisbären gefressen.


Als mein ehemaliger Zimmerkollege Artjom Geburtstag hatte und wir eine Nacht in der Sauna verbrachten, lernte ich einen ziemlich interessanten Kerl kennen. Die Festgesellschaft zirkulierte die ganze Nacht lang im Dreieck, von der Sauna ging es ins Schwimmbecken, weiter an den Tisch mit Trinken, Essen, und der in Russland zurzeit absolut unvermeidlichen Wasserpfeife, dann zurück in die Sauna usw. Mein Weg kreuzte sich im Laufe der Nacht mit den meisten Anwesenden, und schließlich fing ein dicker, gemütlicher Geselle, der die ganze Zeit lachte, ein Gespräch mit mir an. Das Partyvolk bestand größtenteils aus Burschen aus Artjoms Dorf Wat (Wörtlich übersetzt bedeutet der Name des Weilers „in die Hölle“, was laut seiner Bewohner vor allem dann für kuriose Momente sorgt, wenn es als Fahrtziel vorne am Bus angeschrieben ist), aber Sergej war aus Tschukotka!


Das Tschuktschenland gehört für mich zu den exotischsten Orten der Welt, es ist ein Streifen Tundra im äußersten Nordosten Sibiriens an der Beringstraße. Das Gebiet, das etwa neunmal so groß ist wie Österreich und achteinhalb Flugstunden von Moskau entfernt, hat 50.000 Einwohner, die sich hauptsächlich dem (Gold-) Bergbau widmen und im Übrigen ziemlich von ihrer Umwelt abgeschnitten sind. Außerhalb der Siedlungen (Es existieren auf 720.000 km² genau neun Siedlungen mit mehr als 1.000 Einwohnern) gibt es keine einzige richtige Straße.
Sergej, der vor anderthalb Jahren zwecks Studierens nach Nischni gezogen ist, war der erste Einwohner Tschukotkas, den ich kennenlernte. Ich wiederum war nicht nur der erste Ausländer, den er in seinem Leben kennenlernte, sondern auch seine erste Bekanntschaft außerhalb Tschukotkas, die von seinem Dorf, Egvekinot, gelesen hatte. Entsprechend interessant war das Gespräch, hier ein paar Eckdaten zum Schmunzeln:

  • Der Flug von Egvekinot in den 235 Kilometer Luftlinie entfernten Hauptort Anadyr kommt die Dorfbewohner teurer als der Flug von Anadyr ins über 6.000 Kilometer Luftlinie entfernte Moskau.
  • In Egvekinot kann man nirgendwo hinfahren, weil die Siedlung sehr kompakt ist, direkt am Beringmeer liegt und es außerhalb des Dorfes nur ein paar unbefestigte Wege gibt – trotzdem hat fast jeder ein Auto.
  • Das Durchschnittseinkommen in Tschukotka ist, von Sachalin, Moskau und der Oblast Tjumén abgesehen, höher als in anderen Teilen Russlands, das wird aber durch die Lebensmittelpreise wieder wettgemacht. Grundnahrungsmittel kosten laut Sergej zwischen drei- und zwölfmal so viel wie in Nischni Nowgorod (Dafür ist Schifahren gratis).
  • Sergej denkt bedauernd an das Jahr zurück, in dem er den einzigen warmen Sommertag des Jahres verschlief.
  • Eine seiner Nachbarinnen in Egvekinot wurde von einem Braunbären gefressen.
  • Mich fasziniert die Abgeschiedenheit von Sergejs Heimat, was ihn fasziniert ist der Umstand, dass ich als Ostösterreicher, wenn ich will, zum Mittagessen ins Ausland fahren kann und am Nachmittag wieder zuhause bin.


2. Die Umweltverschmutzung


Der Mensch ist doch ein Augentier,
schöne Dinge wünsch ich mir.
Doch du, du bist nicht schön.
Du bist hässlich.
(frei nach Rammstein)


Dserschinsk ist mir ein Begriff, seit ich als Zehnjähriger ein „Guinness Buch der Rekorde“ gekauft habe, mit einem Bild darin, auf dem ein Mann, der angewidert das Gesicht verzieht, einige tote Fische in den Händen hält. Am 19. April hab ich mir das entsetzlichste Dreckloch der Welt schließlich angeschaut. Dserschinsk grenzt an Nischni Nowgorod und ist die offiziell dreckigste Stadt der Welt. Die Lebenserwartung liegt hier laut Blacksmith Institute nur unwesentlich über der Lebenserwartung in der Steinzeit – 42 Jahre für Männer und 47 Jahre für Frauen.


Rund 40 große Industriebetriebe, darunter zahlreiche Chemieunternehmen, haben sich im Stadtgebiet angesiedelt und verteilen ihre Emissionen recht zwanglos in der Umgebung. Im kalten Krieg wurden hier überdies chemische Waffen produziert. Was nach der Wende davon übrigblieb, wurde einfach weggeleert. So kommt es, dass sich im Grundwasser der Stadt rund 200 Chemikalien finden, Blausäure, Dioxine, Quecksilber, Sarin, Senfgas, alles, was das Herz begehrt. Der Grenzwert für Phenol wird um das 17-Millionenfache überschritten. Mehrere Wohngegenden Dserschinsks sollten offiziell längst geräumt sein, was aber niemanden wirklich beunruhigt. Rund um die Wohngebiete finden sich 60 Giftmülldeponien, und weil es so gut zur Atmosphäre passt, schmeißen die Dserschinsker auch sonst alles vor die Haustür oder in den nächsten Wald. Ich bin einige Kilometer aus der Stadt hinausspaziert, und im Prinzip war es ein Spaziergang durch eine riesige Müllhalde.


Mit ihrem verseuchten Wasser kochen die Dserschinsker ihre Nudeln, ihre Suppe und, versteht sich, mehrmals täglich ihren Tee. Die Stadt entwässert in die Oka, an der sie auch liegt und aus der etwas weiter flussabwärts das Leitungswasser für Nischni Nowgorod entnommen wird. Wieder ein paar Kilometer weiter unten, im Zentrum von Nischni, strömt dieses großartige Gewässer dann in die Wolga. Letztes Jahr bin ich irgendwo auf eine Quelle gestoßen, die ich nicht mehr finden kann und die besagt, dass die Lebenserwartung in Nischni 55 Jahre beträgt, 17 Jahre weniger als in Moskau.


In Dserschinsk sind im Prinzip alle Menschen krank, Bronchialasthma ist der Anfang. Es gibt Kinder, die ohne Kopf zur Welt kommen. Eventuelle Invaliden-Renten sind minimalst. Benannt ist die Stadt nach Felix Dserschinski, dem Gründer der 1917 gebildeten ersten sowjetischen Geheimpolizei Tscheka.


Als ich am Bahnhof von Dserschinsk aus dem Regionalzug stieg, war das Erste, was mir auffiel, ein Mann, der mir über den Bahnsteig entgegengehumpelt kam. Sein rechtes Bein war dreimal so breit wie sein linkes. Im Verlauf des Tages begegnete ich noch einigen Leute mit schwarzen oder rosafarbenen Ausschlägen im Gesicht, einigen, auch jüngeren Menschen, die humpelten, zwei dicken Kerlen mit schrillen Blechtrommel-Stimmen, mehreren hustenden Leuten und einem behinderten Kind. Das alles ist mir im Vorbeigehen aufgefallen, kann mit der Verseuchung der Stadt zusammenhängen, muss aber natürlich nicht. Die Missbildungen an den Beinen sind in Dserschinsk jedenfalls ein Klassiker, das hat mir ein Arzt in Nischni Nowgorod erzählt.


Das Zentrum von Dserschinsk war dermaßen uninteressant, dass ich es sofort mit der erstbesten Straßenbahn verließ. Von den Nowgoroder Straßenbahnen bin ich bereits Einiges gewöhnt, aber die 5er-Bim von Dserschinsk schlägt das alles noch einmal um Längen: Die Fahrt ist ein einziges Krachen, dass man schreien müsste, um sich verständigen zu können, und das heftige Schwanken und Vibrieren des vorsintflutlichen Gefährts kann man nur als „abenteuerlich“ bezeichnen. Los ging es über die grauenhafte Hauptstraße dieser Drecksstadt, den Lenin-Prospekt – so einen gibt es in jeder russischen Stadt, die etwas auf sich hält – und dann um die Ecke zu den Swerdlow-Werken, der größten Fabrik in Dserschinsk, in der neben allerhand Chemikalien auch Sprengkörper und Munition produziert werden. Die Asphaltwüste vor dem Werkseingang glich einem Truppenübungsplatz. Dass in Russland alle Uniformierten allergisch auf Fotoapparate reagieren, war mir nach einem unerfreulichen Zusammentreffen einige Wochen zuvor klar, deshalb war ich dieses Mal ein bisschen vorsichtiger. Trotzdem habe ich alles fotografiert, was ich fotografieren wollte, wobei die Chemiefabriken so großräumig abgesperrt und teils rundum von Wald  umgeben sind, dass man als Fußgänger z.B. bei den Swerdlow-Werken nicht einmal Produktionsgebäude erkennen kann (Wenigstens gibt’s in Dserschinsk noch Vegetation... Von Norilsk, einer stark verseuchten sibirischen Großstadt weit über dem Polarkreis, kann man das nicht behaupten.).


Und staubig ist es, dieses Dserschinsk... Nach ungefähr einer Stunde musste ich das erste Mal husten, hatte einen widerlichen Geschmack im Mund, und mein Taschentuch war schwarz. Ein Blick nach oben belehrte mich, dass der Himmel über Russland an einem Sonnentag wohl überall blau ist – aber nicht in Dserschinsk. Die Stadt hat vor einigen Jahren an alle Einwohner Gasmasken verteilt.


Nachdem ich mich also relativ rasch davon überzeugt hatte, dass Dserschinsk hält, was es verspricht, unternahm ich einen zweistündigen Fußmarsch zum hyperbolischen Turm an der Oka, einem netten Kuriosum aus den 20er-Jahren. Unterwegs entdeckte ich in einem kleinen Waldstück nahe dem Dorf Datschnyj einen teilweise bereits ziemlich überwucherten Friedhof, auf dem nach 1990 nur mehr wenige Leute eingegraben worden waren. Da hatte ich gar keine andere Wahl, als ein bisschen kopfzurechnen.


Von den hier begrabenen Frauen waren einige offenbar beinahe 100-jährig gestorben. Dafür waren von den Männern geschätzte 40 % keine 50 Jahre alt geworden, und von diesen hatte wiederum die Hälfte bereits das 35. Lebensjahr nicht mehr erlebt. In einem Winkel des Friedhofs hantierte eine ältere Frau mit Blumen und wollte von mir wissen, wen ich denn suche. Ich hatte also auch eine Frage frei und merkte an, dass in Dserschinsk und in Datschnyj anscheinend ziemlich viele Leute ziemlich jung sterben. Die Antwort: „Kommt Ihnen das so vor? Jaja, die Zeiten werden härter.“ Unglaublich typisch für Russland... Die Dserschinsker wohnen halt dort, wo sie immer gewohnt haben, und dass mit einer Tasse Tee 200 Chemikalien aufgebrüht werden, ist unbekannt oder uninteressant. Wenn die eigenen Kinder nicht krank sind, ist das gut, und wenn sie krank sind, ist es eh schon zu spät... Umweltverschmutzung ist für Russen, die nicht unmittelbar von ihr betroffen sind, kein Thema, und wer in Russland eine Methode entwickelt, wie man die Natur noch effizienter verunreinigen kann, hat freie Hand. Begründet wird diese beinahe absolute Gleichgültigkeit unter anderem mit der Größe des Landes – wir haben ja eh so viel Platz da bei uns.


Ein anderes Extrembeispiel für Umweltverschmutzung ist die Süduralspur, an deren Anfang 1959 bei der (jahrzehntelang vertuschten) Majak-Katastrophe die vierfache Tschernobyl-Dosis an Radioaktivität freigesetzt wurde. Zahlreiche Dörfer im kontaminierten Gebiet wurden nie evakuiert, die Bewohner dienten und dienen in einigen Fällen bis heute als lebende Versuchskaninchen. So, genug davon. =) Die Fotos von Dserschinsk unterlegt ihr am besten mit einem Lied der polnischen Rockgruppe Hey – Antiba.